Agit Kabayel gilt seit Jahren als größte deutsche Hoffnung im Profiboxen. Nun greift er vor seiner Haustür nach der EM-Krone im Schwergewicht.
Eine Runde währt im Boxen exakt drei Minuten, das ist seit den ´Queensberry Rules´ von 1889 verbindliche Regel. So gesehen hat Agit Kabayel in den letzten Trainingswochen reichlich Überstunden gekloppt: Wenn das akustische Signal ihn in die Pause schickte, hatte der dreißigjährige Schwergewichtler jeweils eine halbe Minute länger mit verschiedenen Partnern gesparrt. Die methodische Extraschicht war zwischen ihm und seinem Trainer Sükrü Aksu einvernehmlich abgesprochen. Am Samstag, wenn es im Bochumer RuhrCongress, wenige Kilometer von seiner Wohnung entfernt, um den vakanten Titel eines Europameisters der Profis geht, will Kabayel schließlich konditionelle Vorteile ausspielen.
Ständig den Druck hoch und die Distanz zum Gegner kurz zu halten, von der ersten bis zur letzten Sekunde: Das gehört zum taktischen Muster eines ´Pressure Fighter´, der seine Kontrahenten allmählich zu verschleißen sucht. Darum hat Kabayel in einem kleinen Gym im Zentrum von Düsseldorf über den Winter „alles abgerufen, was der Körper kann“. So durfte er nach der letzten von 72 Sparringsrunden schweißglänzend versichern: „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Jetzt kommt die Prüfung.“ Dass er dabei noch lächeln konnte, lag an einem feinen Unterschied: Es war seit längerem die erste Vorbereitung, die er wieder in Gesellschaft absolvieren konnte.
„In der Corona-Zeit war es jedes Mal so, als hätte man mich ins Gym gezwungen“, vergleicht er. „Ich war immer allein, hatte meine Routine, und täglich grüßte das Murmeltier. Da konnte der Körper schon nach zwei Wochen nicht mehr, und der Kopf auch nicht. Wie willst du denn abrufen, wenn dir die Decke auf den Kopf fällt? Jetzt habe ich mit lauter Kumpels trainiert. Dann gehst du ans Limit und hast noch Spaß dabei…“
Rückendeckung beim großen Heimspiel
So spricht einer, der zum Einzelgänger wenig taugt. „Ich brauche immer Leute um mich herum“, sagt Kabayel. In dem Sinne steht dem Gemütsmenschen ein echtes Heimspiel bevor. Im Bochumer Norden, zwischen Starlight-Express und Fußballstadion, werden ihm etliche Verwandte und Freunde beim Duell mit dem Kroaten Agron Smakici den Rücken stärken - und mit ihnen 3200 Boxfans. Dass einer zum Anwärter auf einen größeren Titel im Königslimit avanciert, kommt an der A40 ja nicht alle Tage vor. Da muss man schon auf Heinz Neuhaus zurückgreifen, der während der 1950er in der Dortmunder Westfalenhalle Europameister und Lokalmatador war.
Genauer betrachtet, weist Kabayels 23.Profikampf (bisher 22 Siege) jedoch weit übers Ruhrgebiet hinaus. Welcher andere Faustkämpfer mit deutscher Lizenz (und deutschem Pass) hätte denn zuletzt in gleicher Manier vorgelegt? Mittlerweile ist es fast sieben Jahre her, dass der einstige Kickboxer erstmals Europameister werden und den Titel bis 2019 viermal verteidigen konnte. Das brachte ihm Respekt in Insiderkreisen und Einladungen zum Sparring mit zwei Weltmeistern (Tyson Fury und Anthony Joshua), aber kaum nachhaltige Popularität oder Monsterbörsen ein. Die sind ohne Beteiligung großer TV-Sender hierzulande gerade nicht zu finanzieren.
So blieb der Hoffnungsträger ein ´Hidden Champion´, weltberühmt in Wattenscheid. Die Lösung schien eine Kooperation mit US-Promoter Bob Arum und dem Sportsender ESPN zu sein, die der Magedeburger Promoter Ulf Steinforth, Chef von SES Boxing, für seinen Mandanten einfädelte. Dafür legte dieser sogar den EM-Titel nieder. Der große Sprung nach vorn blieb trotzdem aus. Erst scheiterte ein lukrativer Kampf mit WBC-Champion Tyson Fury an Visaproblemen. Dann kam Corona, jeglicher Kampfsport wechselte in den Überlebensmodus, und von ESPN war nicht mehr viel zu hören.
Volle Konzentration auf Smakici-Fight
„Meine Karriere ist eine ziemliche Achterbahnfahrt“, sagt Kabayel ohne Anflug von Bitterkeit. Das hat viel mit einem unerschütterlichen Willen zu tun: „Das Leben ist eine Prüfung, und manchmal testet Gott mit solchen Sachen, ob du mental stark genug bist.“ In dem Sinne stellt der erneute Griff nach dem EM-Titel auch einen Versuch dar, etwas nachzuholen. „Wir werden wieder ganz oben angreifen, zu einer Million Prozent“, so Kabayel. „Amerika bleibt ja mein Traum, und in diesem Geschäft kann alles so schnell gehen. Aber jetzt konzentriere ich mich auf Agron Smakici.“
Dem 1,97 Meter großen, auch mal in Hamburg aufgebauten Kroaten (19 Siege, 1 Niederlage) eilt bei einer K.o.-Quote von 85 Prozent der Ruf eines brisanten Punchers voraus. Das allein beeindruckt Kabayel indes wenig: „Es ist immer gut, wenn man jemand verprügeln kann, aber krieg mal selber eine rein. Darum bin ich mal gespannt, ob der auch einstecken kann. Ich gebe niemand einen einfachen Kampf.“
Die wahren Erschütterungen finden gerade ohnehin eher in Pazarcik statt. Das ist die Kleinstadt im Südosten der Türkei, in der Kabayels Eltern aufgewachsen sind, und wo nun die Erde gebebt hat. Die Nachrichten davon haben den Familienmenschen nicht unberührt gelassen, zumal dabei auch eine Kusine ums Leben gekommen ist. Darum werden er und sein Team am Samstag mit besonderen T-Shirts in den Ring steigen. Sie verweisen auf eine Spendenaktion zu Gunsten der Opfer, für die jeder vor Ort einzahlen kann.
Mancher wäre eingedenk der Katastrophe eventuell nicht frei im Kopf. Doch Agit Kabayel ist überzeugt, dass er das im Moment der Wahrheit ausblenden kann. Mehr noch: Er möchte daraus sogar „eine sehr, sehr positive Motivation“ für den richtungweisenden Kampf ziehen, wie er nach dem letzten Training noch erklärt hat: „Ich will den Leuten da unten meinen Sieg widmen. Darum werde ich absolut hungrig in den Ring steigen.“
Text: Bertram Job