Sarah Liegmann – aus der Ringecke: Sportlermagersucht

Bevor ich loslege: Ich freue mich sehr, dass du hier bist, um meine Kolumne zu lesen. Es wird chaotisch, lustig, aber hauptsächlich 100 Prozent echt. Ich werde von vielen Anekdoten und Erfahrungen aus dem Boxen berichten, aber dir auch spannende Insights in meinen alltäglichen Wahnsinn geben. Und jetzt heißt es: Ring frei!

Sarah Liegmann schreibt in ihrer neusten Kolume über ein sehr schwieriges Thema im Sport – die Sportlermagersucht. (Foto: IMAGO / Wolter)

Anorexia athletica – auch Sportlermagersucht genannt, ist im Kampfsport keine Seltenheit. Häufig liegt eine Anorexia athletica im Grenzbereich zwischen normalem Essverhalten und einer Anorexia nervosa. Um hier ein wenig Klarheit über die ganzen Begrifflichkeiten zu verschaffen, mache ich zunächst eine Abgrenzung zwischen beiden Begriffen. Die Anorexia athletica ist eine Störung des Essverhaltens, die bei Leistungssportlern auftritt. Sie tritt hauptsächlich in Sportarten auf, in denen ein geringes Gewicht einen Leistungsvorteil bringt, daher ist sie auch in Sportarten wie Leichtathletik oder Turnen keine Seltenheit. Kennzeichnend für die Anorexia athletica ist eine bewusste Gewichtsreduktion, die mit einer drastischen Restriktion der Kalorienzufuhr einhergeht – mit der Absicht die sportliche Leistung zu steigern.

Während Menschen, die an einer Anorexia nervosa – also einer herkömmlichen Magersucht – erkranken, unter einer verzerrten Körperwahrnehmung (Körperschemastörung) leiden, erfolgt die Beurteilung bei einer Anorexia athletica im Vergleich zu Konkurrenten. Eine gestörte Selbsteinschätzung liegt nicht vor. Die Gewichtsreduktion ist hier häufig Folge von Leistungsdruck und hängt eng mit den Trainingsphasen zusammen. Im Fokus liegt hier also ganz klar Leistungssteigerung und Erfolg. Es ist eine klare Korrelation zwischen Individualsportlern und der Sportlermagersucht zu erkennen. Ich werde mich hier allerdings hauptsächlich auf Kampfsportler beziehen. In den Gewichtsklassesportarten tritt eine Anorexia athletica hauptsächlich auf, um sich durch ein niedrigeres Gewicht einen körperlichen Vorteil seinem Gegner gegenüber zu verschaffen. Die Sportler „machen Gewicht“ und versuchen somit, ihr Gewichtslimit zu erreichen.

Ein wesentlicher Trigger ist das Streben nach Perfektionismus, das durch den Wunsch nach einem idealen Körperbild und maximaler Leistung angetrieben wird. Jeder will gewinnen und den Ruhm ernten, aber wie hoch ist der Preis und wie weit gehen Athleten und vielmehr auch Trainer? Das Idealbild wird oft schon sehr früh durch das tägliche Umfeld eines Boxers wie z.B. das Trainerteam geprägt. Für viele Boxer ist das Gym ein zweites Zuhause, die Trainer sind Familie – den Wunsch, sich für Olympia zu qualifizieren oder Profi zu werden, haben viele Boxer schon von klein auf. Und nur harte Arbeit und Ehrgeiz führen zum Ziel.

Sportlermagersucht: Je mehr Erfolg, desto höher der Druck

Logischerweise sucht jeder den für sich perfekten Weg, um erfolgreich zu sein. Aber ist dieser Weg immer gesund – und ist es immer der eigene Wille des Boxers? Die Aussagen von Trainern können enorme psychische Folgen auf die Sportler haben, da diese ihre Coaches um keinen Preis enttäuschen wollen. Kinder beispielsweise werden vor den Trainern auf die Waage gestellt, es wird nur nach zu leicht oder zu schwer geurteilt. Was macht das mit Jugendlichen in der Pubertät?

Kann man sich als Sportler mit seinen Zielen dagegen wehren, wenn die Coaches, denen man so sehr vertraut, plötzlich sagen, man müsse doch noch eine Gewichtsklasse tiefer kämpfen, da dort die Chancen größer sind? Kann man als junger Athlet einschätzen, ob es gut oder schlecht ist, wenn man die Entwässerungstabletten von den Trainern bekommt, um das Gewicht für das nächste Turnier zu machen? Meine Antwort ist ganz klar: nein. Zu oft habe ich es erlebt und mit ansehen müssen, wie viele Sportler daran kaputtgegangen sind. Sie mussten den Sport, den sie so sehr geliebt haben, verlassen, weil ihr Körper nicht mehr leistungsfähig war.

Mit Hunger zum Erfolg

Entzieht man sich vom Druck der Trainer oder eines Verbandes und legt nun den Fokus ganz allein auf den Sportler selbst, gibt es auch viele, die einen großen Vorteil für sich in den zwanghaften Diäten sehen – und deshalb ganz ohne äußerliche Einflüsse der Sportlermagersucht verfallen. Ein Misserfolg kann beispielsweise dafür verantwortlich gemacht werden, dass man nicht ordentlich auf seine Ernährung geachtet hat was zu Reduzierung der Leistungsfähigkeit führt. Hungert man sich einmal runter und hat in einer tieferen Gewichtsklasse große Erfolgserlebnisse (da man durch einen Größenvorteil oder ähnliches dominieren konnte), so besteht die Wahrscheinlichkeit, es wieder zu tun – und vielleicht sogar noch tiefer zu gehen, da man sich ja so „gut“ gefühlt hat.

Anfangs ist es ganz normal, dass die Sportler sich leistungsfähiger fühlen – viel spielt hier auch die Psyche mit ein. Doch ab einem gewissen Punkt kann der Körper als Motor nicht mehr ohne die nötige Energie in Form von Nahrung und Flüssigkeit leistungsfähig sein. Der Wille nach Erfolg und Siegen wird über den eigenen Körper gestellt. Ein Karriere-Aus kommt dann schneller, als man denkt. Außenstehende, Teamkollegen und Familie sollten, sobald sie eine drastische Veränderung bei dem nahestehenden Boxer sehen, eingreifen.

Sarah Liegmann

Sarah Liegmann wurde am 26. Januar 2002 in Bonn geboren. Die Federgewichtlerin boxt seit 2021 als Profi, trainiert und lebt in Deutschland und in den USA. Liegmann alias „The Princess“ ist amtierende WBC-Junioren-Championesse. Zudem sicherte sich die frühere Kickboxerin den WM-Gürtel des Verbandes WBF.

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