25 Jahre jung, EBU-Champ und K.o.-Qualitäten wie Artur Beterbiev oder Gervonta Davis: Hamzah Sheeraz ist nicht nur in Großbritannien ein Hoffnungsträger. Kann der Aufsteiger dem Mittelgewicht neuen Glanz verleihen?
Als sich Europameister Tyler Denny und Jungstar Hamzah Sheeraz am 21. September auf der Undercard von Joshua vs. Dubois im Ring gegenüberstehen, ist es ein unerwartet schnelles Wiedersehen für den Champ. Wenige Monate zuvor war er noch als Sparringspartner im Camp von Sheeraz, um diesen auf den Fight gegen den US-Amerikaner Austin „Ammo“ Williams am 1. Juni vorzubereiten, den sein britischer Landsmann mit einem T.K.o. in Runde elf für sich entscheidet. So ist es im September dann ausgerechnet der Titelverteidiger, der als Underdog in den Kampf geht. Die Prognosen sollen Recht behalten: Der 33-jährige Champ hat dem acht Jahre jüngeren Aufsteiger kaum etwas entgegenzusetzen. Denny wird in der zweiten Runde von Sheeraz so hart niedergeschlagen, dass der Ringrichter einen T.K.o.-Sieg des Youngsters postuliert.
In einer Zeit, in der viele britische Box-Stars wie Tyson Fury, Anthony Joshua oder Chris Eubank jr. eher durch verpasste Chancen, zweifelhafte Gegnerwahl und durchwachsene Leistungen von sich reden machen, kann die Box-Nation einen neuen Helden gebrauchen. Hamzah Sheeraz kommt zur richtigen Zeit, lässt seine Landsleute im Publikum und am Kommentatoren-Mikro jubilieren. Seine Bilanz ist beeindruckend: 21 Siege, 17 davon vorzeitig. Noch beeindruckender wird dies bei genauerem Hinsehen: Die vier Punktsiege erringt Sheeraz in seinen ersten sechs Profifights, als er noch über vier oder sechs Runden geht. Seitdem beförderte er jeden Gegner vorzeitig aus dem Ring.
Elektriker statt Boxer
Der Sohn eines pakistanischen Vaters und einer indischen Mutter erblickt am 25. Mai 1999 in London das Licht der Welt. Sportliches Talent ist ihm in die Wiege gelegt: Hamzahs Vater Kamran spielte professionell Cricket für Gloucestershire, der Großvater väterlicherseits und sein Onkel Imran waren Boxer. „Mein Onkel gewann als Amateur mehrere nationale Titel (in Großbritannien; d.Red.) und brachte mich zum Boxsport, als ich acht Jahre alt war“, erzählt der Jungstar der BBC.
Als Amateur schafft Sheeraz es drei Mal ins Finale der nationalen Jugendmeisterschaften, aber eine große Karriere ist nicht drin für ihn. Für bedeutende Turniere wird er oft nicht aufgestellt, sodass er den Glauben an den Sport verliert und der „Sweet Science“ für ein Jahr den Rücken kehrt, um bei einem Elektriker zu lernen. Sein damaliger Trainer Lenny Butcher kann ihm überzeugen, zum Boxen zurückkehren und im Alter von 18 Jahren Profi zu werden. Am Tag seiner Volljährigkeit unterschreibt Hamzah bei Queensberry Promotions, was sich für Promoter Frank Warren als Glücksgriff erweisen soll.
In den Anfangsjahren boxt Sheeraz bis zu fünf Kämpfe im Jahr. Dabei muss sich der aufstrebende Boxer auch mit Rassismus auseinandersetzen. So findet er 2021 eine Notiz an seinem Auto, als er vom Training kommt, die ihn wegen seiner pakistanischen Wurzeln beleidigt. Als die britischen Fußballer Bukayo Saka, Jadon Sancho und Marcus Rashford im gleichen Jahr mit rassistischen Schmähungen überzogen werden, weil sie im EM-Finale gegen Italien Elfmeter verschießen, solidarisiert Hamzah sich mit ihnen. Am 24. Juli 2021 trägt er Sakas Namen beim Ring-Walk auf einem Shirt, ehe er Ezequiel Guerrera durch T.K.o. in der Fünften besiegt.
Britisches Box-Idol als Vorbild
Zu Sheeraz‘ Vorbildern gehört Amir Khan, ein britisches Box-Idol mit ebenfalls pakistanischen Wurzeln. Wie Khan will auch der Jungstar gegen Vorurteile ankämpfen und an seinen Leistungen im Ring gemessen werden. Im Seilgeviert gewinnt er Ende 2019 den Europa-Titel der WBO im Halbmittel mit einem T.K.o.-Sieg über Ryan Kelly und verteidigt den Gürtel vier Mal erfolgreich, ehe er 2022 ins Mittelgewicht aufsteigt. Dort fügt Sheeraz dem früheren Olympiateilnehmer Dmytro Mytrofanov die erste Profiniederlage zu – T.K.o. in Runde zwei. Im nächsten Fight setzt er dem zweimaligen WM-Herausforderer Liam Williams so derbe zu, dass dessen Ecke noch vor Ende der ersten Runde das Handtuch wirft.
Mit seiner Größe von 1,91 Metern gehört Hamzah Sheeraz zu den größten Boxern im Mittelgewicht, mit ebensolcher Reichweite. Doch der Schützling von US-Coach Ricky Funez, der regelmäßig bei diesem in Los Angeles trainiert, hat noch wesentlich mehr zu bieten. Seine Deckungsarbeit ist famos, ebenso seine Schlagkraft und sein Auge für Lücken in der Deckung seiner Gegner. Außerdem ist Sheeraz ein gnadenloser Finisher: Zeigen seine Gegner Schwäche, dann deckt der Brite sie erst recht mit regelrechten Schlagkanonaden an den Seilen und in der Ringecke ein, bis er als Sieger aus dem Ring steigt.
Zahlreiche WM-Optionen für Hamzah Sheeraz
Im Herbst dieses Jahres wird Sheeraz sowohl beim WBC als auch bei der WBO auf Platz eins der Herausfordererliste geführt. Als er zum Pflichtherausforderer von IBF- und WBO-Champ Zhanibek Alimkhanuly gekürt wird, trifft er eine folgenreiche Entscheidung – und steigt aus dem Kampf aus, woraufhin er aus beiden Rankings fällt. Lieber boxt Sheeraz am 22. Februar gegen WBC-Weltmeister Carlos Adames. Das ist einerseits der größere Name, andererseits ist der Fight Teil des Mega-Events Beterbiev vs. Bivol II in Riad, wo es unter anderem zu Daniel Dubois vs. Joseph Parker, Jaron Ennis vs. Vergil Ortiz jr. und Zhilei Zhang vs. Agit Kabayel kommen soll. Hinzu kommt, dass dies Teil des Event-Programms der „Riyadh Season“ ist, zu dessen Botschaftern Sheeraz gehört. Sollte sich Hamzah Sheeraz im Februar erneut bewähren, dürften Fights gegen Alimkhanuly und WBA-Champ Erislandy Lara nur noch eine Frage der Zeit sein.
Manche Experten träumen bereits davon, dass der Shootingstar der Mittelgewichts-Division wieder zum Glanz jener Zeiten verhelfen kann, als Gennady Golovkin und Canelo Alvarez noch um die Krone im Limit stritten. Sollte ihm das gelingen, dann wäre Hamzah Sheeraz endgültig der neue Nationalheld von Box-Britannien.
Text von Nils Bothmann