Sarah Liegmann – aus der Ringecke: Was Kampfsport bewirken kann

Bevor ich loslege: Ich freue mich sehr, dass du hier bist, um meine Kolumne zu lesen. Es wird chaotisch, lustig, aber hauptsächlich 100 Prozent echt. Ich werde von vielen Anekdoten und Erfahrungen aus dem Boxen berichten, aber dir auch spannende Insights in meinen alltäglichen Wahnsinn geben. Und jetzt heißt es: Ring frei!

BOXSPORT-Kolumnistin Sarah Liegmann, hier mit ihren WM-Gürteln der Verbände WBC (Junioren) und WBF, studiert Psychologie. (Foto: privat)

Im Rahmen meines Psychologie-Studiums absolviere ich aktuell ein Praktikum in einer Kinder- und Jugend-Psychiatrie. Anfangs war ich sehr unsicher, ob ich mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen – emotional bedingt – arbeiten kann. Allerdings muss ich sagen, dass mich genau diese Arbeit mit Minderjährigen sehr erfüllt. Trotzdem gibt es logischerweise immer wieder Momente, in denen einzelne Geschichten mich doch mehr bewegen und ich das Ganze unterbewusst mit nach Hause nimmt.

Vorbild-Funktion für Patienten

Ich bin jetzt seit vier Wochen auf der Station für Magersüchtige (Magersucht = Anorexia nervosa) – kein Zufall, dass ich genau dorthin gekommen bin. Leider ist die traurige Wahrheit, dass oft auch Leistungssportler in stationärer Behandlung anzutreffen sind. Aber nicht nur da sollte ich therapeutisch bei den Patienten anknüpfen. Leistungsdruck, Ernährung, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl begleiten einen Sportler durchs Leben – die anorektischen Patienten auch, nur auf eine andere Art. An den Stellen, wo die Psychologen kein offenes Ohr mehr bekommen, schenken die Patienten ihre Aufmerksamkeit eher der jungen Sportlerin, die erfahrungsbedingt Fragen beantworten. Außerdem kann sie diese vielleicht auch auf einer anderen Ebene abholen, weil sie noch keine Psychologin ist, die unangenehme Gespräche führt. Praktisch gelte ich in meiner Funktion ein wenig als Vorbild.

Aufgrund der Ferienzeit sind aktuell einige Kollegen im Urlaub, so auch die Bewegungstherapeuten. Nicht nur Patienten mit Depressionen, Angststörungen etc. dürfen beziehungsweise sollen Sport machen, tatsächlich auch anorektische Patienten, die außerhalb eines lebensbedrohlichen Gewichtes liegen, dürfen in die Bewegungstherapie. Bewegungstherapie ist leider kein geschützter Begriff – mit einer Trainerlizenz ist man bereit, als Bewegungstherapeut zu arbeiten. An Kliniken wird kein Unterschied gemacht, ob studierter Sportwissenschaftler oder „nur“ lizenzierter Personal Trainer. Ohne Vorerfahrung mit Patienten darf man diese trainieren. Leider ein schwieriges Thema, aber trotz alldem habe ich bis jetzt nur Gutes von der Bewegungstherapie in dieser psychiatrischen Einrichtung gehört.

Als Bewegungstherapeutin gefragt

In der Zeit meines Praktikums mangelte es nun an Bewegungsmöglichkeiten. Also fragte mich meine Chefin, ob ich mit einigen Mädchen der Station in deren Körperbild-Therapiestunde eine Art therapeutisches Boxen machen möchte. Patienten mit Anorexie sind in der Regel sehr antriebslos und in sich gekehrt. Man muss oft mehrmals nachfragen, um überhaupt eine Reaktion von den Patienten zu erhalten. Trotzdem stehen dieser Eigenschaft eine unfassbare innere Stärke und Anspannung gegenüber. Es gehört eine enorme Kraft dazu, dauerhaft gegen die eigenen Grundbedürfnisse (Hunger, Durst) anzukämpfen. Anorektische Patienten stehen ständig „im Ring“: Sie tragen dabei zwei Kämpfe aus – den Kampf gegen sich selbst und den Kampf gegen die Krankheit. Ein Vergleich, den ich gerne in den Gruppenstunden benutzt habe.

Das Schöne im Boxen ist, dass man seine ganze Energie und seine innere Anspannung aus sich heraus auf ein bestimmtes Objekt zentrieren kann. Genau das habe ich in meinem Training versucht, den Mädchen so gut wie möglich zu vermitteln.

Es hat mich unfassbar begeistert, dass selbst die stillsten und zurückgezogensten Patienten an den Pratzen aus sich herauskommen und ihre innere Anspannung lösen konnten. Das hat mir erneut gezeigt, wie positiv Kampfsport auf Menschen wirken und was er verändern kann. Und welchen Einfluss er generell auf unser emotionales Befinden hat.

Sarah Liegmann

Sarah Liegmann wurde am 26. Januar 2002 in Bonn geboren. Die Federgewichtlerin boxt seit 2021 als Profi, trainiert und lebt in Deutschland und in den USA. Liegmann alias „The Princess“ ist amtierende WBC-Junioren-Championesse. Zudem sicherte sich die frühere Kickboxerin den WM-Gürtel des Verbandes WBF.

Webseite: princess-boxing.de
YouTube: Sarah Liegmann
Instagram: sarahliegmann
Facebook: sarah.liegmann