Usyk vs. Fury – große Geschichtsstunde

Mehr als 20 Jahre nach Lennox Lewis wird es im Schwergewicht wieder einen Weltmeister geben, der alle Titel auf sich vereint. Tyson Fury und Oleksandr Usyk treffen am 18. Mai in Riad aufeinander. BOXSPORT macht vor dem Mega-Fight den Check.

Nach ewigem Hin und Her könnte es am Samstag nun endlich zum Showdown in Riad kommen. Auf dem Media-Day am Dienstag waren beide Boxer – hier Usyk – zumindest anwesend. (Foto: Getty Images / Richard Pelham)

Erfahrung

Sowohl Fury als auch Usyk boxen seit ihrer Jugendzeit und schöpfen aus einem reichen Erfahrungsschatz. Der Engländer stand mit dem Hall-of-Famer Wladimir Klitschko und gleich dreimal mit dem K.o.-Knipser Deontay Wilder im Ring und hat zwischen den Seilen eigentlich schon alles erlebt – inklusive Bodenbesuche wie zuletzt gegen Ngannou. Usyk hat 350 Amateurkämpfe auf dem Buckel und schlug nach seinem Einstieg bei den Profis im Cruisergewicht jeden Gegner von Rang und Namen in kurzer Zeit. Der Olympiasieger von 2012 machte sich als „Road Warrior“ einen Namen. Alle seine WM-Titel gewann Usyk im „Backyard“ des Gegners. 2021 entzauberte er in London den physisch klar überlegenen Anthony Joshua und gewann ein Jahr später auch den Revanchekampf in Saudi-Arabien. Unterm Strich haben beid Boxer in puncto Erfahrung keine wirklichen Vorteile.

Kampfstil

Fury ist ein boxerisches Chamäleon, ein Mann mit vielen Stilen. Er kann grundsätzlich im Vor- und Rückwärtsgang, sowohl in der Normal- als auch der Rechtsauslage kämpfen. Unter der Ägide seines Trainers Sugar Hill Steward (seit 2020) präsentiert sich der 2,06-Meter-Riese zumeist als agile Wuchtbrumme, die dem Gegner all seine Masse aufzwingt und langsam, aber sicher demontiert.

Usyks Stil besticht indes durch Einzigartigkeit. Dank seiner beeindruckenden koordinativen Beinarbeit schwirrt er um die Kontrahenten herum und trifft sie mit seinen schnellen Fäusten aus unvorhersehbaren Winkeln. Der 1,90 Meter große Ukrainer schlägt außerdem eine hervorragende rechte Führungshand, die ihm zum einen als „Fühler“ dient, um sich in die richtige Distanz zu bringen, und die Gegner andererseits immer wieder schmerzhaft im Gesicht trifft.

Ausdauer

Usyk ist für sein extrem hartes Trainingsregime bekannt und kann ohne Ende Tempo bolzen. Oft legt der Ukrainer in den „Championship Rounds“ nochmal eine Schippe drauf, während der Gegner (wie auch zweimal Joshua) aus dem letzten Loch pfeift. Im Schwergewicht tritt Usyk zwar etwas dosierter auf, kann dank seiner vorzüglichen Ausdauer aber deutlich mehr schlagen als die meisten anderen Schwergewichtler. Fury hatte in seinen wichtigen Kämpfen bisher noch nie konditionelle Probleme und verlässt sich auf sein nach eigener Aussage außergewöhnliches Lungenvolumen. Spannend wird, ob er seine 120 Kilo auch gegen einen Tempobolzer wie Usyk in den roten Bereich treiben und dort halten kann.

Taktik

Fury sollte in Riad darauf setzen, seine gewaltigen Größen- und Reichweitenvorteile auszunutzen und Usyk „von draußen“ wie „von drinnen“ zu bearbeiten. Der 35-Jährige wird sicherlich den Körper seines Rivalen ins Visier nehmen, denn hier wirkte Usyk in der Vergangenheit – speziell gegen Daniel Dubois – verwundbar. Fury dürfte zudem bei jeder Gelegenheit versuchen, seinen Rivalen in einen Clinch zu verwickeln, um sich mit all seinen Pfunden auf den kleineren Mann zu „legen“ und so dessen Beine weich zu machen.

Usyks „Game Plan“ ist relativ schnell und klar mit dem Konzept „Stick and Move“ beschrieben. Heißt: Der 36-Jährige muss auf schnellen Beinen um Fury tanzen, mit blitzartigen Angriffen „rein“ in den Mann und dann die Gefahrenzone schnell wieder verlassen. Dass er dazu in der Lage ist, gegen einen „Großen“ anzutreten, hat er zweimal gegen Joshua bewiesen. Runde um Runde sammelte Usyk mit dieser Gangart Punkte und gewann so auf den Zetteln der Jury.

Fazit

Nicht wenige Fans und Experten setzen nach dem Ngannou-Debakel ein Fragezeichen hinter Fury. Dennoch steigt der „Gypsy King“ am 18. Mai als Favorit in den Ring. Furys klare körperliche Vorteile könnten am Ende den Unterschied ausmachen. „Ein guter großer Boxer schlägt einen guten kleinen“, besagt eine alte Weisheit. Kann ein sehr guter Usyk dieses Box-Axiom widerlegen und als erster Boxer seit dem legendären Evander Holyfield den Schritt vom unumstrittenen Cruisergewichts-Champion zum einzig wahren Meister aller Klassen vollenden? Zuzutrauen ist es dem Ausnahmekämpfer allemal.

Text von Martin Armbruster