Vincenzo Gualtieri steht vor seinem größten Kampf, boxt am 1. Juli gegen Esquiva Falcao um die vakante Mittelgewichts-WM der IBF. Im BOXSPORT-Interview spricht der AGON-Fighter über seine bisherige Laufbahn, sein Idol Graciano Rocchigiani und über das bevorstehende Karriere-Highlight in seiner Heimatstadt.
Als BOXSPORT Vincenzo Gualtieri per Telefon zum Interview erreicht, sitzt der AGON-Fighter gerade im Bus. Er ist auf dem Weg vom Flughafen im spanischen Granada ins Höhentrainingslager in der Sierra Nevada. In Spaniens höchstem Gebirge bolzt der 30-Jährige Kraft und Ausdauer für den anstehenden Kampf seines Lebens.
Hallo Vincenzo! Wie zufrieden bist du, dass es so schnell mit einer Titelchance geklappt hat?
Also, ich bin auf jeden Fall überglücklich und extrem dankbar, dass AGON so einen guten Job gemacht hat, dass ich diese WM-Chance bekomme.
Würdest du sagen, dass in deiner Karriere bislang alles nach Plan gelaufen ist?
Ja, absolut. Seit ich bei AGON bin, läuft wirklich alles nach Plan. Es geht eigentlich konstant immer weiter nach oben. Zuerst habe ich den Deutschen Meistertitel geholt, anschließend zuerst den IBO-Continental-Titel und kurz darauf den IBF Intercontinental-Gürtel gewonnen, was letztendlich die Qualifikation für den WM-Kampf war. Das soll aber nicht heißen, dass vorher alles schlecht war. Das Problem war eigentlich nur, dass die Promotion, bei der ich vorher unter Vertrag stand – Graciano Rocchigiani Boxpromotion –, Insolvenz anmelden musste.
Box-Idol wird zum Mentor und Freund
Graciano Rocchigani, eines der großen deutschen Box-Idole, gilt als dein Entdecker. Wann und wie habt ihr euch kennengelernt?
Wir sind uns 2006 in Duisburg zum ersten Mal begegnet. Er hatte dort mal ein Gym, ich bin einfach mal zum Training hingegangen, habe ihn getroffen und wir haben uns auf Anhieb direkt gut verstanden. Damals meinte Rocky schon zu mir: „Wenn ich irgendwann mal eine eigene Promotion aufmache, nehme ich dich unter Vertrag!“ Wir waren seitdem eigentlich ständig in Kontakt und Rocky ist mit der Zeit ein guter Freund der Familie geworden. So kam die Verbindung mit Graciano Rocchigiani Boxpromotion zustande, wo ich 2015 unterschrieben habe.
Gab es außer den gemeinsamen italienischen Wurzeln etwas, was Graciano und dich verbunden hat?
Wir hatten vielfach die selben Ansichten, den gleichen Humor, sodass wir uns zwischenmenschlich einfach sehr, sehr gut verstanden haben. Er hat mein Talent als Boxer früh erkannt. Als ich bei ihm trainierte, war ich ja noch sehr jung, hatte gerade einmal ein paar Amateurkämpfe bestritten. Rocky merkte früh, dass aus mir etwas werden könnte. Er hatte einfach so viel Erfahrung. Deshalb konnte ich mir bei ihm auch einige Dinge abgucken – seine Zielstrebigkeit, seine Gradlinigkeit zum Beispiel.
Bevor du in deiner Jugend mit dem Boxen begonnen hast, hast du Fußball gespielt. Wie kam es zu diesem Wechsel?
Ja, das stimmt. Im Alter von zwölf Jahren habe ich mit dem Amateurboxen angefangen. Bis ich 16 Jahre alt wurde, habe ich Fußball und Boxen parallel betrieben. Dann wurde es mir allerdings etwas zu viel, hörte mit dem Fußballspielen auf und konzentrierte mich auf das Boxen.
„Seit ich bei AGON bin, läuft wirklich alles nach Plan. Es geht eigentlich konstant immer weiter nach oben.“
Vincenzo Gualtieri
Wie verlief deine Laufbahn als Amateurboxer?
Das war eine ganz erfolgreiche Zeit. Ich wurde zweimal Deutscher Mannschaftsmeister mit dem Boxclub Velbert, war beim Chemie-Pokal dabei, ich habe internationale Turniere bestritten und auch gewonnen. Insgesamt waren es 100 Kämpfe bei den Amateuren – ich habe in dieser Zeit das Box-Handwerk gelernt, kann man sagen.
Wie hast du in dieser Zeit dein Geld verdient?
Nach der Schule habe ich direkt angefangen, als Industrieverpacker in einem großen Unternehmen in Wuppertal zu arbeiten. Ende 2014 entschied ich mich, mein Hobby, meinen Sport zum Beruf zu machen und Profi zu werden. Anfang 2015 ging es dann los – in dieser Zeit hatte Graciano gerade seine Promotion gestartet und mich direkt unter Vertrag genommen.
Hattest du damals schon deinen Kampfnamen „Il Capo“?
Der stammt genau aus dieser Zeit. „Il Capo“ kommt aus dem Italienischen und bedeutet „der Chef“. Den Namen hat mir meine Familie gegeben.
Weil du der Chef in der Familie warst?
(lacht) Nein, nein. Nur im Ring beim Boxen.
Vincenzo Gualtieri über den Tod seines Freundes Graciano Rocchigiani
Am 1. Oktober 2018 kam Graciano bei einem Verkehrsunfall in Italien ums Leben. Wie erinnerst du dich an diesen Tag?
Damals stand ich ja bereits bei AGON unter Vertrag. Ich erinnere mich noch, wie mich mein Vater anrief, weil er es als Erster aus unserer Familie erfahren hat. Er rief mich dann mittags an, ich machte gerade zwischen den Trainingseinheiten einen Mittagsschlaf und habe das im ersten Moment gar nicht so realisiert, was er mir da erzählte. Wir legten dann auf und ich rief ihn kurze Zeit später noch einmal zurück und fragte, ob er wüsste, was er mir da gerade erzählt hat. Denn ich konnte es nicht glauben, das fühlte sich an wie ein schlechter Traum. Das war für mich nicht zu realisieren.
Zuvor hatte Rocky seine „Graciano Rocchigiani Box Promotion“ in Berlin, für die du auch geboxt hast, schließen müssen. Wie kam es dann zum Wechsel zum AGON-Stall?
AGON hatte sich bei mir gemeldet, weil AGON-Chef Ingo Volckmann eine Dokumentation gesehen hatte, die wir damals bei Graciano gedreht hatten. Er fand mich auf Anhieb sympathisch und hatte danach gesagt: „Den Jungen will ich mir mal anschauen.“ Anschließend bin ich mal zum Sparring vorbeigekommen, das hat den Leuten bei AGON auch gut gefallen. Dann hat es nicht lange gedauert, bis ich den Vertrag unterschrieben habe.
Dieses Interview erschien zuerst in BOXSPORT 6/23. Im zweiten Teil des Interviews spricht Vincenzo Gualtieri über die Vorbereitung auf den WM-Kampf am 1. Juli, seine Taktik und wie er seinen Gegner Esquivo Falcao einschätzt. Jetzt den zweiten Teil lesen.