Kaum eine Stadt weltweit wächst so schnell wie Lagos. Doch Hoffnungen und Sehnsüchte werden in der nigerianischen Millionenmetropole gleichermaßen befeuert wie zerstört. BOXSPORT war vor Ort und hat erfahren, was es bedeutet, wenn das Boxen die Hoffnung fürs tägliche Überleben nährt.
Der Freedom-Park in Downtown Lagos ist einer der wenigen Orte in der nigerianischen Millionenmetropole, der Ruhe verspricht. An der Pforte muss man umgerechnet einen Euro zahlen. Dann kann man unter Palmen an idyllischen Wasserläufen spazieren oder in der kleinen Garküche am Hauptplatz Jollof-Reis essen und kaltes Bier schlürfen. Überall am Wegrand stehen Schautafeln, die über die historische Bedeutung des Ortes aufklären. Einst errichtete die britische Kolonialregierung hier das „Broad Street Prison“. Wer nicht spuren wollte, wurde eingesperrt. Wandgemälde erinnern an die dunklen Schatten der Fremdherrschaft und das Ringen um Unabhängigkeit. Im Laufe der Jahre haben lokale Initiativen und Künstler die Verwaltung des Freedom-Parks übernommen, im Bemühen der Bevölkerung einen Ort zu geben, an dem die Hoffnung lebt. In Lagos gibt es ihrer nicht viele.
Oft finden hier Konzerte oder Tanzveranstaltungen statt, aber heute fliegen im Freedom-Park die Fäuste. Bei 35 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit wie im Gewächshaus duellieren sich in den frühen Abendstunden zahlreiche Boxerinnen und Boxer unter der Aufsicht des „Nigerian Boxing Board of Control“. Zwei Titelkämpfe krönen die Veranstaltung und sogar der lokale König der Yoruba, eine der drei großen Volksgruppen Nigerias, nimmt samt Gefolgschaft neben dem Ring Platz, um zu späterer Stunde die Sieger zu ehren.
Eine klassische, osteuropäisch, amerikanisch oder kubanisch geprägte Amateurschule hat hier niemand durchlaufen. Dafür werden harte Treffer gelandet. Einige Kämpfe enden vorzeitig. Die Atmosphäre auf den Rängen ist ausgelassen und freundlich. Man knabbert frittierte Kochbananen, trinkt Limo und hält Pläuschchen, fast wie bei einem Familienfest.
„Wir haben viele Talente“
Ich treffe „Fight Ghist“, der eigentlich Akinlade Abiodun heißt und Humangenetik studiert. Fight Gist ist Mitte zwanzig und hat ein bubenhaftes Gesicht mit einer vertikalen Narbe auf jeder Wange. Tradition bei den Yoruba. Wenn er gerade nicht in der Uni-Bibliothek für Klausuren lernt, postet er auf seinen Social-Media-Kanälen über die nigerianische Boxszene. Niemand kennt sich so gut aus wie er. „Wir haben viele Talente in Lagos, aber es fehlen die Förderungen, um das vorhandene Potenzial auszuschöpfen“, sagt Fight Ghist, „die Athleten müssen für alles selber aufkommen und sind auf Familie, Freunde oder private Sponsoren angewiesen. Erfolgreich wirst du nur, wenn du Opfer bringst und dein Schicksal selbst in die Hand nimmst.“ Zum Glück sei man in der Szene gut vernetzt und unterstütze sich gegenseitig. Gyms, Trainer, Boxer – sie alle ziehen in Lagos am selben Strang und wissen, dass sie füreinander da sein müssen, wenn es sonst niemand ist.
Fight Ghist zeigt auf eine junge Frau in kurzem Sommerkleid, die gerade eine Tüte Popcorn mampft. Dünn wie ein Strich in der Landschaft, aber offenkundig mit hohem Sendungsbewusstsein. Lautstark feuert sie einen der Boxer im Ring an, schwingt in den Rundenpausen die Hüfte zu den neuesten Afrobeat-Hits, die aus den Lautsprechern dröhnen, und debattiert kurz darauf wild gestikulierend mit ihren Begleitern über den Verlauf des Kampfes.
Nigerianische Box-Hoffnung made in Lagos
„Das ist Cynthia Ogunsemilore“, sagt Fight Ghist und winkt die junge Frau zu sich heran. In wenigen Monaten wird sie bei den Olympischen Spielen in Paris für Nigeria einlaufen. Ob ein Interview möglich sei, frage ich. „Komm um neun in der Früh zu meinem Training nach Bariga“, sagt Cynthia, „danach können wir sprechen“. Nach dem letzten Kampf zweier Mittelgewichtlerinnen um den Titel der „West African Boxing Union“ und der Siegeszeremonie mit dem Yoruba-König von Lagos gehen langsam die Lichter aus. Fight Gist empfiehlt, für den Weg nach Hause ein Taxi zu nehmen. Mit wem man auch spricht: Alle sind sich einig, dass man hier nach Einbruch der Dunkelheit nichts mehr auf der Straße verloren hat.
25 Millionen Menschen sollen in Lagos leben, aber so genau weiß das niemand. Entsteht eine städtische Infrastruktur normalerweise, um dem gemeinsamen Leben einen organisatorischen Rahmen zu geben, scheint sich die Stadt hier gegen ihre Bewohner gerichtet zu haben. Kriminalität und Korruption blühen gleichermaßen, Raubüberfälle und Entführungen sind an der Tagesordnung und die Millionengewinne aus der Ölförderung im Niger-Delta landen eher in den Taschen der politischen Eliten als in Investitionsprogrammen für Bildung oder den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Tagein tagaus schieben sich abertausende Autos hupend und stinkend durch die riesigen Straßen, die heruntergekommene Wohngebiete und Elendsviertel wie scharfe Furchen durchziehen. Selbst in besseren Gegenden staut sich das Abwasser in offenen Kanalschächten am Straßenrand und über der ganzen Stadt liegt das Brummen der Dieselgeneratoren, weil die Stromversorgung ständig zusammenbricht. „Lagos ist ein verrückter Ort“, sagt der Taxifahrer und aktiviert die Zentralverriegelung des Autos, „du musst zu jeder Zeit wachsam sein.“
Treffen im „Wembley“ von Lagos
Bevor ich Cynthia, die angehende Olympionikin, in Bariga besuche, habe ich jedoch eine Verabredung mit Hassan. Hassan kenne ich von Twitter, wo er Erlebnisse aus seinem Alltag als Uber-Fahrer und angehender Profi-Boxer teilt. „Uber fahren in Lagos ist gefährlicher als Boxen“, sagt er, deswegen liege jetzt die volle Konzentration darauf, seine Profikarriere ins Rollen zu bringen. Bis dato konnte er vier Siege in vier Kämpfen verbuchen. Wirklich gefordert wurde er noch nicht. Wir treffen uns im „Wembley“, ganz im Norden der Stadt, wo Hassan wohnt und sich auf seine Kämpfe vorbereitet.
Text: Marius Bolduan
Teil zwei der Reportage findet ihr am nächsten Montag auf der Webseite!