Boxen in Lagos – Fighting City (II)

Im zweiten Teil unserer Reportage aus Lagos hat sich BOXSPORT-Redakteur Marius Bolduan mit der nigerianischen Olympiastarterin Cynthia Ogunsemilore getroffen.

Lagos
Cynthia hofft irgendwann von einem internationalen Box-Promoter unter Vertrag genommen zu werden. das dürfte nach ihrer 11-jährigen Sperre, die ihr vor den Olympischen Spielen in Paris verhängt wurde, schwierig werden. (Foto: Marius Bolduan)

Hier geht es zum ersten Teil der Reportage über das Boxen in Lagos.

Das Wembley ist ein staubiger Hinterhof in einer etwas abschüssigen Gegend, nicht reich, aber auch nicht bitterarm. Im hinteren Teil des Hofes ist eine Gruppe schwerer Jungs mit Gewichtstraining beschäftigt. Alle bringen deutlich über hundert Kilo auf die Waage. Vorne, zwischen Autowracks und herumstreunenden Hühnern, legt Trainer „Ugly Wolf“ eine Koordinationsleiter auf den Boden. „Los geht’s, aufwärmen!“ Außer Hassan sind alle blutige Anfänger und ich frage mich, wie in diesem Umfeld eine Profikarriere gedeihen soll. Eine stark beleibte Frau von rund fünfzig Jahren ist zum ersten Mal hier und keucht nach wenigen Sekunden wie nach einem Marathonlauf. „Go, go, go! Keep pushing! Keep pushing!“, feuert Ugly Wolf, der eine schwarze Skimaske trägt, seine Schützlinge an. Dann wird die Gruppe getrennt. Die Anfänger üben an ihrer Schrittarbeit; für Hassan und Ugly Wolf heißt es: Handschuhe an, Zahnschutz rein. In zwei Wochen soll Hassan wieder in den Ring steigen und seinen fünften Sieg einfahren.

„Als junger Profiboxer in Lagos musst du Promoter bezahlen, um an Kämpfe zu kommen“, erzählt er. „Mein Geld verdiene ich immer noch mit Uberfahren. Außerdem bin ich zertifizierter Techniker für die Reparatur von Klimaanlagen in Autos. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter. Ich muss für meine Familie sorgen.“ Doch warum dann überhaupt Profiboxen? „Du musst dir eine gute Bilanz aufbauen und irgendwann nimmt dich hoffentlich ein Promoter unter Vertrag. Dann kannst du auch ins Ausland reisen und bekommst Sponsoren.“

Nahrungsmittel für Cynthia

Gegen Ugly Wolf, der zwei Mal die nationalen Amateurmeisterschaften gewann, sieht es für Hassan heute nicht gut aus. Sein Kinn ragt zu weit in die Höhe und immer wieder kassiert er empfindliche Treffer. Eigene Offensivakzente wollen ihm gegen den starken Linksausleger mit der Skimaske auch nicht recht gelingen. Nach sechs relativ einseitigen Runden ist Schluss. Wo er sich in fünf Jahren sehe, will ich wissen. Hassan schaut in die Ferne. „Hoffentlich nicht mehr in diesem Land und mit dem Weltmeistergürtel eines großen Verbandes in den Händen“, sagt er schließlich. „So Gott will, es ist möglich.“ Und dann noch einmal leise, wie um sich selbst Mut zuzusprechen: „Es ist möglich!“

Am Abend, bevor ich Cynthia Ogunsemilore treffe, schreibt sie mir eine Nachricht. „Kannst du mir was mitbringen?“, fragt sie. „Klar! Was denn?“ Kurz darauf schickt sie eine Liste: Müsliriegel, Milch, Zucker, Cornflakes, Butter, Instant-Nudeln und weitere Grundnahrungsmittel. Gerade habe sie einfach kein Geld. Im nächsten Supermarkt mache ich einen Einkaufswagen voll und denke an die Olympiastützpunkte, an denen europäische Kaderboxer sich auf internationale Turniere vorbereiten, an die sauberen Hallen, an die Athletiktrainer, Ernährungsberater und die angeschlossene Leistungsdiagnostik. Es ist ein ungleiches Spiel.

Harter Distrikt in Lagos

Bariga gilt als eine der härtesten Gegenden in Lagos. Besonders nachts treiben Gangs ihr Unwesen. Es ist sieben Uhr dreißig in der Früh. Am Rande einer staubigen Straßenkreuzung, inmitten spartanischer Flachbauten, geht für Cynthia und ein Dutzend anderer Boxer das morgendliche Training los. Nach einer kurzen Aufwärmphase schickt „Coach Always“ die Truppe zum Laufen durch die Straßen der Nachbarschaft. Jeden Morgen kommt Coach Always hierher, später am Nachmittag sind die Kinder und Jugendlichen dran. Geld können ihm die wenigsten dafür geben, aber in den Ring steigen müssen alle, ob als Amateure oder Profis. Reines Freizeitvergnügen sei das Boxen hier für niemanden. Einer richtigen Arbeit geht Coach Always nicht nach, aber seine Frau hat ein kleines Lebensmittelgeschäft in der Nähe. Zusammen versuchen sie, mit ihren vier Kindern über die Runden zu kommen. Manchmal, sagt er, wundert er sich selbst, dass es dann doch immer weitergeht.

In den Slums von Bariga, einer der härtesten Gegenden von Lagos, startet das morgendliche Training um sieben Uhr dreißig. (Foto: Marius Bolduan)

Als die Gruppe wieder zurück ist, geht es direkt ans Eingemachte. Eine knappe Stunde hartes Sparring steht auf dem Programm. Viel Platz ist nicht auf der kleinen Betonfläche neben der Straße, sodass es ganz schön eng wird. Auf wenigen Quadratmetern wird ordentlich zugelangt, alles in Halb- und Nahdistanz. Etwa ein Drittel sind Frauen, aber es wird munter durchgewechselt. Ein paar Meter weiter köchelt auf offenem Feuer ein Eintopf, Kinder toben herum und imitieren die Bewegungen der Boxer, einsame Hunde streunen ihrer Wege, irgendwo kräht ein Hahn.

Ablehnung für Menschen aus Bariga

„Überall schaut man auf uns Menschen in Bariga herab und beschimpft uns“, sagt Cynthia, die heute – ganz anders als bei unserer ersten Begegnung – sehr ernst wirkt und mit ruhiger Stimme spricht. „Ich will der Welt zeigen, dass wir stark sind, dass wir hart arbeiten und etwas erreichen können.“ Coach Always und Cynthias Vater sind alte Freunde. Als sie zwölf Jahre alt war, warb der Trainer darum, sie unter ihre Fittiche nehmen zu dürfen.

Groß, dünn, Linkshänderin – genau jene Attribute, nach denen er auf seinen Scouting-Touren durch die Schulen Barigas Ausschau hält. Cynthia erfüllte sie alle und absolvierte nach knapp drei Monaten ihren ersten Kampf. Danach gab es für sie kein Halten mehr. Zwar schloss sie nach der Schule eine Ausbildung als Friseurin ab, aber wenn sie sich ihre Zukunft ausmalte, dachte sie immer nur ans Boxen. „Man muss sich viel anhören“, sagt sie, „gerade als junge Frau: Warum dieser brutale Sport und nicht einfach ein normaler Beruf? Warum bist du noch nicht verheiratet? Warum keine Kinder?“ Wenn man seinen Weg gegen so viele Widerstände geht, müsse man einen starken Willen haben und dürfe nicht den Fokus verlieren. Zu viele Menschen habe sie hier schon gesehen, die vom richtigen Weg abgekommen sind.

Keine Unterstützung vom Verband

Seit der Präsidentschaftswahl im Oktober letzten Jahres und dem Sieg Bola Tinubus hat sich die wirtschaftliche Situation des Landes dramatisch verschlechtert. Hyperinflation, Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit. In Lagos spürt man dieser Tage an allen Ecken und Enden, dass es für die meisten Menschen kaum mehr zum Leben reicht. Auch Cynthia, die sich bei den Olympischen Spielen in Paris mit Top-Athletinnen aus der ganzen Welt messen wird, kommt nur dank des Rückhalts ihrer Familie über die Runden. „Wir bekommen keine Unterstützung vom Verband“, klagt sie, „uns fehlen geeignete Räumlichkeiten zum Trainieren, Kleidung, Equipment und medizinische Betreuung.“ Die Qualifikationskämpfe für Paris hat sie dennoch beeindruckend deutlich gewonnen, ihre Gegnerinnen aus Kenia und Mosambik schafften es nicht über die Distanz. Gegen Ende der Trainingseinheit muss Cynthia noch mal zu Coach Always an die Pratzen. Sie bedauert sehr, dass er nicht mit nach Paris kommen kann.

Der Mythos des Underdogs ist so alt wie das Boxen selbst. Von ganz unten soll es nach ganz oben gehen. Dabei sind es nicht die Millionen eines Floyd Mayweather oder das Jetset-Leben eines Anthony Joshua, von dem Hassan, Cynthia und Co. zu träumen scheinen. Vielmehr ist es die Möglichkeit, durch harte Arbeit die Geschicke des eigenen Lebens selbst in die Hand zunehmen. In einer Stadt, in der die kollektive Ohnmacht grassiert, ist das von unschätzbarem Wert. Wenn der Gong zur ersten Runde schlägt, sind alle gleich. Auch das kann Freiheit bedeuten.

„Später mal will ich meinen eigenen Friseursalon aufmachen“, sagt Cynthia, „dann kann ich meiner Familie und Coach Always hoffentlich zurückzahlen, was sie mir über all die Jahre gegeben haben. Aber erst muss ich Olympia gewinnen.“ Es ist möglich, denke ich.

Text: Marius Bolduan