Tyron Zeuge greift erneut an – und will sich in Birmingham für einen weiteren WM-Fight in Stellung bringen. BOXSPORT besuchte den Berliner Supermittelgewichtler.
So etwas ärgert ihn: Kaffeeflecken. Auf seiner nigelnagelneuen silbergrauen Jogginghose. Er benetzt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand, rubbelt kräftig am koffeinhaltigen Rückstand. Der Effekt, der Klecks auf dem Textil am rechten Oberschenkel verschmiert. „Shit!“, grummelt Tyron Zeuge. In dem Moment schreitet Manager Jan Gronke durch die verglaste Tür einer Fitnessfiliale in Berlin-Spandau. Mit einer bunten Einkaufstüte unterm Arm. Darin ein hellbrauner Pappkarton eines Versandgiganten. Der Supermittelgewichtler blickt ungläubig, kurzerhand öffnet er die Schachtel. Ein neuer Kopfschutz, pechschwarz. Anprobe stante pede. Passt.
Es ist Anfang Februar, Zeuge bereitet sich vor. In sechs Wochen will er wieder auf die Bretter, die für ihn die Welt bedeuten. Auswärts im englischen Birmingham. Ein Ranglisten-Fight für den Ex-WBA-Weltmeister. Vorher heißt es aber ackern; stundenlang, täglich. Eine Auszeit bleibt, für einen Small Talk mit BOXSPORT. Übrigens das einzige Interview, das Gronke vor dem Insel-Fight gegen Zach Parker zulässt.
Wir nehmen in einer Ecke im Vorraum des Studios Platz. Holzwürfel dienen als Sitzmöbel. Zeuge zieht eines der beigefarbenen Kissen unter den Allerwertesten und rückt seine marineblaue Wollmütze hoch an den Haaransatz. „Wir sind ein Low-Budget-Projekt“, sagt er spitzbübisch. Das war mal anders. Blitzlichtgewitter, Schlagzeilen, Liveübertragungen. Und Aussicht auf kräftig Knete. Jahre her. Jahre, in denen viel passiert ist. Ohne Boxen. „Ich habe einfach nur noch eine Leere verspürt.“ Längst sei er aber wieder voller Tatendrang. Dazu gleich.
Lieber „Scheiße bauen“
Zeuge ist in Nord-Neukölln, im Schillerkiez, aufgewachsen. Einem Gründerzeitviertel mit solider Altbausubstanz. Schule war nie so sein Ding. Oder wie er keck bemerkt: „Ich war wohl zu intelligent für den Unterricht, habe mich deshalb oft gelangweilt.“ Ihm war lieber nach „Action, scheiße bauen“. Er sei halt ein „Straßenköter“; einer, der keinem Stress ausgewichen ist. Nie.
Mit sechs Jahren begann Tyron zu boxen. Ein Rat seines Vaters, einem Hausmeister und Taxifahrer. Die Entwicklung seines Sohns verlief rasant. Der junge Bengel fightete für die Neuköllner Sportfreunde (NSF). Urkunden, Medaillen, Pokale zierten fortan seine vier Wände. Nur, eine emotionale Bindung zu seinen Erfolgen konnte er damals nicht so recht aufbauen. „Der Kram war für mich unwichtig, vieles hab’ ich an Kumpels verschenkt.“
Wenig überraschend, auf das Top-Talent wurden die Big-Promotor aufmerksam. Zeuge unterschrieb 2012 beim Sauerland-Stall, Profi mit 19. Kämpfe in Serie folgten, fünf, sechs Ringschlachten binnen zwölf Monaten. Im Juli 2016 dann die Chance, Fight um den WBA-Titel im Supermittelgewicht gegen den Italiener Giovanni De Carolis. Die Kontrahenten trennten sich remis, De Carolis blieb Champ. Aber nicht lange. Im Rematch vier Monate später Zeuges Triumph, Sieg nach T.K.o. in Runde 16.
Vergleich mit Rocky
Der Teenie ist am Ziel, der zweitjüngste deutsche Weltmeister. Und immer wieder der Vergleich zum jüngsten Titelträger bislang: Graciano Rocchigiani. Stört ihn der Vergleich? Zeuge: „Nee, quatsch, überhaupt nicht, ich sehe viele Parallelen zu Grace.“ Welche? Einfach eine ehrliche Haut sein, sich von unten nach oben boxen – und trotz Erfolgen bodenständig bleiben. Das Motto, simpel: hinfallen, aufstehen, wieder hinfallen, wieder aufstehen. Eine Frage von Mentalität. Ja, und Haltung war bei Titelverteidigungen gefragt. Etwa bei den blutigen Scharmützeln mit Isaac Ekpo. Der nicklige Nigerianer verlangte Zeuge alles ab. Der Berliner behielt zwei Mal die Oberhand.
Jeder Höhenrausch endet irgendwann. Endstation war für Tyron Zeuge im Juli 2018. Niederlage gegen den Briten Rocky Fielding. Bis 24 Stunden vor dem ersten Gong lief alles nach Plan. Dann knackte es im Oberkörper: Wirbelblockade. „Eigentlich hätte ich den Kampf absagen müssen“, sagt Zeuge rückblickend. Infrage kam das für den „Krieger“ indes nicht. Ergebnis: Aufgabe in Runde fünf, WM-Gürtel futsch.
Danach wurde es richtig turbulent; nicht sportlich, sondern privat. Promotorwechsel, Motivationsprobleme, Perspektivlosigkeit. Zu allem Überdruss knockten ihn Lockdowns aus. Dazu literweise Bier und kiloweise Currywürste. Dickmacher als Nahrungsergänzung in der Coronakrise. 120 Kilogramm in der Spitze brachte Zeuge auf die Waage. Als Beleg zeigt er dem Autor eine Fotostrecke in seinem iPhone. Zeuge mit aufgedunsenem Gesicht und Dreifachkinn im illustren Kreis seiner Kumpels. Irgendwie durchschlagen musste er sich trotzdem. Als Türsteher in angesagten Clubs der Hauptstadt, „in Dissen“, wie Zeuge augenzwinkernd meint.
Zeuge will rüberfliegen, weghauen, abfeiern
Aber eines Tages habe es „Klick im Kopf gemacht“. Auch der Liebe wegen. Tyron verschlug es nach Augsburg, zur Profiboxerin Cheyenne Hanson. Beide teilten Passion und Profession. Der Spaß am Boxen kam zurück, Zeuge heuerte im August 2022 bei der Magdeburger Promotion Fides Sports von Burim Sylejmani an. Wie gehabt, Fights in Serie, 2023 drei in sechs Monaten. Der reaktivierte Faustkämpfer brachte alle souverän über die Bühne. Im November 2023 musste Zeuge verletzungsbedingt passen. Zurückgeworfen hat ihn das nicht, „ich bin mit Anfang dreißig gereift“, sagt er. Ferner ist er nach Berlin zurückgekehrt. Keine Liaison hält ewig.
Nun wird Zeuge in die zweitgrößte Stadt des Vereinigten Königreichs reisen – und Parker am 16. März vor den geballten Fäusten haben. „Siegt Tyron, rangiert er bei den großen Verbänden weit oben“, erwartet Sylejmani. Und dann könnte neuerlich ein WM-Ticket winken, hofft der Promotor im Gespräch mit BOXSPORT. Zeitnah sogar. Parker ist für Zeuge kein Unbekannter, sie standen sich früher beim Sparring im Sauerland-Stall gegenüber. Darauf angesprochen, zuckt er nur mit den Schultern – und sagt: „Auf die Schnauze habe ich von ihm wohl nicht bekommen, sonst würde ich mich erinnern.“ Da ist es wieder, das typische schelmische Schmunzeln. Dennoch, wie bereitet Zeuge sich auf seinen Gegner vor? Klar, hin und wieder schaue er mit seinem Staff Videoschnipsel von Parker. Kirre machen lässt er sich davon aber nicht. Zeuges Marschroute: rüberfliegen, weghauen, abfeiern. Und: „Um Mitternacht nach dem Fight bin ich ratzevoll“, verspricht er.
Text von Oliver Rast